BERLIN/ERFURT (dpa-AFX) - Die Krise in Thüringen soll nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Thomas Kemmerich (FDP) durch die Bildung einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung mit Bodo Ramelow an der Spitze beendet werden. "Wir brauchen erst einmal eine Regierung, bevor wir geordnet in Neuwahlen gehen", sagte Linken-Landeschefin Susanne Hennig-Wellsow am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur in Erfurt. Auch die Spitzen von Union und SPD in Berlin hatten sich beim Koalitionsausschuss am Samstag dafür ausgesprochen. Die Landes-CDU und die Grünen sind ebenfalls für diesen Weg.

Allerdings versucht die AfD einen Strich durch die Rechnung zu machen und dabei die Proteste gegen Kemmerichs Wahl mit AfD-Stimmen und seinen erzwungenen Rücktritt für sich zu nutzen. Bundestagsfraktionschef Alexander Gauland sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Die kopflose Reaktion von CDU und FDP bringt mich zu der Empfehlung an die thüringischen Freunde, das nächste Mal Herrn Ramelow zu wählen, um ihn sicher zu verhindern - denn er dürfte das Amt dann auch nicht annehmen."

Die Linke drängt deshalb die CDU, sich bei einer neuen Ministerpräsidentenwahl nicht nur zu enthalten, sondern zumindest teilweise für Ramelow zu stimmen, um eine Mehrheit ohne AfD zu sichern.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) telefonierte am Samstag mit Ramelow. Es sei dabei sehr klar darauf hingewiesen worden, dass die CDU keine Linken unterstütze, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus Koalitionskreisen. Ramelow habe sich im Telefonat besorgt gezeigt, dass er im ersten Wahlgang plötzlich durch die AfD zu einer Mehrheit kommen könne. Zuvor hatte die "Bild am Sonntag" über das Telefonat berichtet.

An diesem Montag will in Erfurt die Landtagsfraktion der Linken über das weitere Vorgehen beraten, wie Henning-Welsow sagte. An der Sitzung wolle auch Ramelow als direkt gewählter Abgeordneter teilnehmen. Danach würden Vertreter von Linken, SPD und Grünen beraten. Die Linken-Chefin kündigte an, dass ihre Partei auch das Gespräch mit der CDU suchen werde. Ramelow hat erklärt, für eine Ministerpräsidentenwahl zur Verfügung zu stehen.

Rot-Rot-Grün fehlen vier Stimmen für eine Mehrheit im Landtag. Es dürfe nicht auf die Stimmen der AfD ankommen, sagte Henning-Welsow. "Wir werden Ramelow nur in die Wahl schicken, wenn wir eine demokratische Mehrheit für ihn haben."

Bislang hat die CDU-Fraktion erklärt, einen von den Linken aufgestellten Ministerpräsidenten nicht aktiv ins Amt zu wählen. "Wir sind offen für Gespräche, die für stabile Verhältnisse im Thüringer Landtag sorgen", sagte CDU-Generalsekretär Raymond Walk nach dem Kemmerich-Rücktritt. In der Landes-CDU hieß es, durch die AfD-Drohung, Ramelow zu wählen, gebe es eine neue Situation, die zunächst zu bewerten sei. Als wenig hilfreich bezeichnete Walk Forderungen, die CDU müsse für Ramelow stimmen. "Wir haben unsere Grundsätze und klare Beschlusslagen und bitten, diese zu respektieren."

Die CDU-Landtagsfraktion und das CDU-Bundespräsidium hatten erst am Freitag ausgeschlossen, Ramelow aktiv mitzuwählen. Ein Parteitagsbeschluss verbietet auch jede koalitionsähnliche Zusammenarbeit mit AfD wie Linker.

Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) setzte sich jedoch davon ab und riet seiner Partei, eine Regierung mit Beteiligung der Linkspartei unter Umständen zu tolerieren. Offen blieb bei seiner Äußerung in Kiel, ob er sich direkt auf Thüringen bezog oder allgemein sprach.

Ramelow attackierte Gauland wegen seiner Wahlempfehlung für ihn scharf. "So agieren Demokratieverächter", schrieb er auf Twitter. Damit werde deutlich, dass es etwa dem Thüringer AfD-Chef Björn Höcke überhaupt nicht um die Demokratie gehe.

Kemmerich hatte am Samstag fast zeitgleich zur Tagung des Koalitionsausschusses in Berlin seinen Rücktritt mit sofortiger Wirkung erklärt. Er bleibt laut Verfassung geschäftsführend im Amt. Der Koalitionsausschuss verlangte, dass umgehend ein neuer Ministerpräsident im Landtag gewählt wird. Unabhängig davon müsse es baldig eine Neuwahl geben.

CSU-Chef Markus Söder bezeichnete die Forderung der Koalitionsspitzen nach baldiger Neuwahl in Thüringen als "klares Signal". Gleichzeitig attackierte er die AfD und kritisierte erneut mit scharfen Worten den Eklat bei der Ministerpräsidentenwahl am vergangenen Mittwoch.

FDP-Chef Christian Lindner gestand Fehler ein. "Ich habe die Skrupellosigkeit der AfD im Umgang mit höchsten Staatsämtern unterschätzt", sagte er der "Bild am Sonntag". Er habe sich nicht vorstellen können, dass die AfD einen Kandidaten zum Schein aufstelle, um FDP und CDU zu beschädigen. "Im Wissen darum hätte ich Thomas Kemmerich natürlich den Ratschlag gegeben, auf die Kandidatur zu verzichten."

Für eine Auflösung des Thüringer Parlaments wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit nötig - und damit auch Stimmen von AfD oder CDU. Die beiden Parteien haben aber signalisiert, dass sie derzeit kein Interesse an einer Neuwahl haben.

Der CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und der großen Koalition verschafft Kemmerichs Rücktritt eine Verschnaufpause. Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken betonte, die gemeinsame Stellungnahme der Koalition sei "in großer Einigkeit" mit CDU und CSU zustande gekommen. Es sei wichtig, dass sich "drei Parteien des demokratischen Spektrums auch nochmals darauf geeinigt haben, dass es unter gar keinen Umständen eine Zusammenarbeit mit der AfD geben kann".

Nicht nur die Entwicklung in Thüringen dürfte etwas Spannung aus der großen Koalition im Bund von CDU, CSU und SPD genommen haben, sondern auch der Rücktritt des umstrittenen Ost-Beauftragten der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU), auf Betreiben von Kanzlerin Angela Merkel. Hirte, der Thüringer CDU-Vize ist, hatte zur Wahl Kemmerichs gratuliert./ro/tam/bk/ctt/htz/maf/DP/nas