Von Andrea Thomas

BERLIN (Dow Jones)--Es war an der Zeit. Ob der Rauswurf von Staatssekretär Patrick Graichen wegen Vetternwirtschaft allerdings reichen wird, um Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) den Hals zu retten, muss sich noch zeigen. Denn Habeck hat lange, wohl zu lange an Graichen festgehalten. Graichen wurde zum Verhängnis, dass er direkt Einfluss genommen hat auf Auftrags- und Postenvergaben, die Verwandte oder Freunden zugute kamen.

Habeck hatte ihm noch vor einer Woche im Bundestag die Treue geschworen. Dass er Graichen nun wenige Tage später, dank neuer Erkenntnisse, absägt, wirkt kaum wie ein Befreiungsschlag für den Wirtschaftsminister. Für sein eigenes Überleben muss er in seinem Haus aufräumen. Aber auch die Koalition aus SPD, Grünen und FDP muss endlich an einem Strang ziehen.

Denn von Seiten der Opposition werden nach wie vor die engen Verflechtungen des von den Grünen geführten Wirtschaftsministeriums mit den Umwelt- und Klimaschutzorganisationen, wie etwa dem Öko-Institut und der Agora-Energiewende, kritisiert. Beim Öko-Institut etwa arbeiten Graichens Schwester Verena und sein Bruder Jakob. Verena Graichen ist zudem mit dem Staatssekretär Michael Kellner verheiratet.

Nun wird es darauf ankommen, dass die "Brandschutzmauern" gegen mögliche Vetternwirtschaft halten. Bedeutsam wird außerdem, wen Habeck als Nachfolger von Graichen ins Wirtschaftsministerium holt. Denn er braucht einen starken Partner, um den Kraftakt der Energiewende meistern zu können.

Erste Namen kursieren bereits. Da ist der Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller, ein Vertrauter Habecks. Müller ist in der Thematik sattelfest und kennt sich als früherer Grüner Landesminister und Abgeordneter in den Fallstricken der Politik aus. Denkbar wäre auch Kerstin Andreae, eine frühere Bundestagsabgeordnete der Grünen und heutige Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Auch sie verfügt über die notwendige Expertise.


   Vom Darling zum Sündenbock 

Angesichts des anhaltenden Koalitionszwists braucht Vizekanzler Habeck einen engen und schlagfähigen Verbündeten. Die Energiewende ist das zentrale Vorhaben der Bundesregierung. Inzwischen weht Habeck aber nicht nur in der Öffentlichkeit Gegenwind entgegen. Auch innerhalb der Bundesregierung wird der Widerstand von Seiten der FDP immer heftiger. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat den Zwist zwischen Grünen und FDP hier zu lange laufen lassen.

Habeck, der einstige Darling der Bundesregierung, ist inzwischen so stark angeschlagen, dass er zum Sündenbock der Regierung geworden ist. Es gibt nicht nur Unmut über die Vetternwirtschaft in seinem Haus, sondern über eine Energiewende, die mit der Brechstange durchgesetzt werden soll. Das wurde auch Graichen angekreidet.

Viele Gesetze sind mit heißer Nadel gestrickt. Dass dabei Fehler unterlaufen, ist kaum verwunderlich. Aber der Fokus auf Verbote nimmt gelegentlich Züge einer staatlichen Planwirtschaft an, bei der das ursprüngliche Koalitionsversprechen eines Bürokratieabbaus in Vergessenheit zu geraten droht.

Hinzu kommt, dass der Bevölkerung nicht reiner Wein eingeschenkt wurde bei der Finanzierungsfrage der Wärmewende. Die Regierung, allen voran Scholz und Habeck, versprechen, dass niemand finanziell überfordert werde. Aber angesichts der hohen Kosten für klimafreundlichere Heizungen und energetische Sanierungen ist klar, dass es für viele sehr teuer wird - und das angesichts der ohnehin inflationsbedingt höheren Lebenshaltungskosten und der Notwendigkeit, mehr Geld für die Rentenzeit zurückzulegen.

Außerdem ist absehbar, dass Energie weiterhin sehr teuer in Deutschland bleiben wird. Importiertes Flüssiggas ist kostspielig. Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht zwar voran, aber noch nicht schnell genug.

Hinzu kommt, dass die erwünschte Mobilitätswende hin zu den Elektrofahrzeugen noch seine Tücken hat. In Städten mag es viele Ladepunkte geben. Aber auf dem Land gibt es Regionen, wo aktuell wegen drohender Überlastung der Stromnetze keine neuen Ladesäulen aufgestellt werden dürfen. Das ist zwar nicht nur dem Wirtschafts-, sondern auch dem Verkehrsministerium anzukreiden. Aber eben auch Habeck.


   Koalition muss mit ewiger Streiterei aufhören 

Ob Habeck daher in seinem Amt überlebt und damit auch die Ampel-Koalition, wird von einer besseren Aufgabenverteilung innerhalb der Regierung abhängen. Die Grünen, besonders im Wirtschaftsministerium, müssen pragmatischer bei der Umsetzung der Energiewende werden.

Die FDP darf nicht so tun, als hätte sie mit der ganzen Thematik nichts zu tun. Auch muss FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner aufhören, den Grünen bei jeder Gelegenheit Stöcke zwischen die Beine zu werfen und den Koalitionsvertrag nach eigenem Belieben zu torpedieren. Und Bundeskanzler Scholz und seine SPD dürfen sich nicht mit der Rolle des lachenden Dritten begnügen, der die beiden kleinen Koalitionspartner streiten lässt.

Am Ende geht es um die Einhaltung der Klimaziele und das Abwenden der Klimakatastrophe. Das alles ist größer als Graichen, Habeck, Lindner und Scholz zusammen. Nach Graichens Abgang wäre aber für Habeck ein Neustart der Koalition überlebenswichtig.

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DJG/aat/smh

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May 17, 2023 09:54 ET (13:54 GMT)