Von Joe Wallace und Kim Mackrael

NEW YORK (Dow Jones)--Was für einen Unterschied ein Jahr ausmacht. Vergangenes Jahr um diese Zeit schnellten die Erdgaspreise in die Höhe, nachdem der Einmarsch Russlands in der Ukraine die schlimmste Energiekrise seit den 1970er Jahren ausgelöst hatte. Zur Überraschung vieler Prognostiker ist dieser Energieschock nun abgeklungen, und die Gaspreise sind weltweit auf dem Rückzug. Das Ergebnis ist ein Glücksfall für die Weltwirtschaft, zumal sie mit einer hartnäckig hohen Inflation zu kämpfen hat.

Energieintensive Unternehmen nehmen ihren Betrieb wieder auf, die Verbraucher kommen in den Genuss niedrigerer Rechnungen und die Befürchtungen vor einem Engpass im Winter haben sich gelegt. Doch die Aussichten sind nicht nur positiv. Der Preisverfall ist auch ein Menetekel für eine Konjunkturabschwächung, die sich zu einer Rezession ausweiten könnte, solange die Zentralbanken die Zinssätze auf hohem Niveau halten.

Europa, das im vergangenen Jahr im Mittelpunkt der Krise stand, ist einer der Hauptnutznießer des monatelangen Rückzugs der Gaspreise. Russland, das gehofft hatte, die Verbündeten der Ukraine zu spalten, indem es die Erdgaslieferungen unterbricht und den Kontinent in eine Rezession stürzt, ist mit diesem Versuch gescheitert. Und das Land muss wegen der niedrigeren Preise für Energieexporte sowie einer von der Gruppe der sieben führenden Demokratien - der G7 - vereinbarten Obergrenze für den russischen Ölpreis Einnahmen einbüßen. Vor einem Jahr, als der russische Präsident Wladimir Putin begann, die Lieferungen für militärische Zwecke auszuschlachten, legten die Erdgaspreise in Europa kräftig zu. Die Rally gipfelte in einem Handelsrausch im vergangenen August, der Hersteller dazu veranlasste, ihre Fabriken zu schließen, und Regierungen dazu brachte, Hunderte von Milliarden Euro für den Schutz ihrer Volkswirtschaften bereitzustellen. Sie griff auf die globalen Energiemärkte über, als Europa Russland aus der weltweiten Gasversorgung herausdrängen wollte.


   Manche Konzerne fahren Produktion wieder hoch 

Seit Anfang Dezember sind die Großhandelspreise in Europa gesunken, was einige Unternehmen dazu veranlasste, ihre Produktion aufzustocken. Dank des Preisrückgangs geben die Regierungen weit weniger Geld für die Unterstützung von Unternehmen und Haushalten aus. Das in Frankreich ansässige Unternehmen Aluminium Dunkerque, das eine der größten Schmelzhütten Europas betreibt, hat im Januar damit begonnen, stillgelegte Schmelzkapazitäten wieder in Betrieb zu nehmen. Und der Konzern rechnet damit, noch in diesem Monat zur vollen Produktion zurückzukehren, so CEO Guillaume de Goÿs. Die Gründe dafür: Zunächst einmal sind die Strompreise gefallen, und die französische Regierung kann Subventionen anbieten, wenn die Preise im Laufe des Jahres steigen. Außerdem gehen immer mehr Aufträge von Kunden ein.

Nicht alle haben aber den Betrieb wieder hochgefahren. Einige Fabriken, insbesondere in der Metallindustrie, brauchen Zeit und viel Geld, um weiterzumachen. Ein Problem für die Unternehmen ist, dass die Preise für Produkte wie Kupfer und Ammoniak parallel zu denen für Erdgas nachgeben, da die weltweite Nachfrage nach Gütern nachlässt. Fabriken in Europa, die immer noch mit höheren Energiepreisen konfrontiert sind als ihre Konkurrenten in anderen Ländern, sind die ersten, die den Druck spüren, ihre Produktion zu drosseln.

OCI, das auf drei Kontinenten Düngemittelbestandteile herstellt, hat keine unmittelbaren Pläne, die Produktion in seinen Ammoniak- und Methanol-Anlagen in Europa nach der Drosselung im Jahr 2021 wieder aufzunehmen. Das liegt unter anderem daran, dass die Terminkontraktpreise darauf hindeuten, dass Erdgas in diesem Winter etwa 80 Prozent mehr kosten wird als jetzt. "Wir wollen die Anlage nicht wieder in Betrieb nehmen, um sie dann wieder abzuschalten", merkt CEO Ahmed El-Hoshy an. OCI treibt den Plan voran, mehr billig zu produzierendes Ammoniak aus anderen Regionen für seine europäischen Aktivitäten zu importieren.

Die schleppende industrielle Gasnachfrage ist ein wichtiger Grund für den Einbruch der Erdgaspreise. Zusammen mit dem milden Wetter im vergangenen Winter und anderen Faktoren, die den Verbrauch einschränken, erklärt dies 90 Prozent des Rückgangs der Gas-, Strom- und Kohlepreise, so James Huckstepp, Rohstoff-Analyst bei BNP Paribas. Chinas stotternder Aufschwung nach dem Ende der Covid-19-Lockdowns bedeutet, dass Europa riesige Mengen Flüssigerdgas (LNG) importiert hat, ohne sich um einen Nachfrageschub in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt sorgen zu müssen. Die für die Jahreszeit ungewöhnlich hohen Gasspeicherbestände werden es dem Kontinent erleichtern, die Kavernen vor dem nächsten Winter wieder aufzufüllen.


   Es herrscht Ungewissheit über weitere Energiepreis-Entwicklung vor 

Händler und Analysten sind der Meinung, dass die Preise noch vor Jahresende klettern könnten, beispielsweise wenn Russland die verbleibenden Gaslieferungen nach Europa über die Türkei und die Ukraine abstellt oder die Nachfrage in Asien sprunghaft ansteigt. "Hohe Lagerbestände sind keine Garantie für einen stabilen Markt", warnt Spitzenmanager Michael Stoppard von S&P Global Commodity Insights. Der Düngemittelriese Yara International fährt seine Produktion von Fertigdünger nach Kürzungen im vergangenen Jahr wieder hoch. Die Ammoniakproduktion bleibt jedoch niedrig. Der norwegische Hersteller betrieb seine europäischen Ammoniakanlagen Ende April mit weniger als der Hälfte ihrer Kapazität. "Die Realität sieht derzeit anders aus, mit viel niedrigeren Energiepreisen, aber auch mit viel niedrigeren Düngemittel- und Lebensmittelpreisen", schildert CEO Svein Tore Holsether die Lage. Und die Ungewissheit über die künftigen Energiepreise sowie die Tatsache, dass Gas in Europa immer noch teurer ist als in den USA und Russland, spielten ebenfalls eine Rolle.

Der europäische Benchmark-Gaspreis ist seit seinem Allzeithoch im vergangenen Sommer um mehr als 90 Prozent gesunken. Mit knapp 30 Euro pro Megawattstunde ist er auf das obere Ende der Preisspanne gefallen, in der Gas vor 2021 ein Jahrzehnt lang gehandelt wurde, ein Faktor, der die Inflation im Euroraum verringert. Der jüngste Rückgang der Rohöl- und Dieselpreise auf der ganzen Welt - ein weiteres Anzeichen für eine Verlangsamung der Wirtschaft - wird auch die höheren Verbraucherpreise bremsen. LNG-Importeure in Asien, die nicht mehr mit den Rekordpreisen in Europa konkurrieren, zahlen viel weniger für den Brennstoff. Pakistan, Bangladesch und Thailand, ärmere Länder, die im vergangenen Jahr von Europa vom Markt für Spot-Ladungen nahezu ausgeschlossen wurden, beginnen, mehr LNG zu importieren, so Huckstepp. Die Exporteure an der US-Golfküste verdienen nach Angaben des Rohstoffdatenunternehmens Argus Media 90 Prozent weniger mit LNG als noch Ende August.


   EU rüstet sich für weiter hohe Energiepreise 

Europa hat sich im vergangenen Jahr beeilt, Infrastrukturen aufzubauen und die Funktionsweise seines Gasmarktes zu ändern, um die Preise zu bremsen. Die EU-Mitgliedstaaten einigten sich darauf, die Preise in extremen Marktsituationen zu begrenzen, und richteten ein neues Preiszentrum für Gas ein, das die weit verbreitete niederländische Title-Transfer-Facility ablösen soll. Und die EU hat außerdem einen Käuferclub für Erdgaseinkäufe aus Übersee gegründet, der kürzlich eine erste Reihe von Lieferangeboten mit potenziellen Käufern auf die Beine gestellt hat. Die Preisobergrenze wurde bisher noch nie in Anspruch genommen und dürfte in diesem Jahr wohl nicht zum Tragen kommen, da der Markt so weit unter dem Niveau liegt, bei dem sie aktiviert werden könnte.

Maros Sefcovic, einer der Vizepräsidenten der EU-Kommission, der die gemeinsamen Beschaffungsbemühungen verantwortet, betont, dass Regierungen und Energieunternehmen nicht selbstgefällig werden sollten. "Wir müssen uns immer noch an die harten Lektionen erinnern, die wir im vergangenen Jahr gelernt haben."

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May 25, 2023 03:37 ET (07:37 GMT)