Frankfurt/Dublin (Reuters) - Die voraussichtlich erste Zinssenkung der EZB kommende Woche markiert laut ihrem Chefvolkswirt Philip Lane noch keinen Sieg über die Inflation.

Lane zufolge wird die Teuerung für den Rest des Jahres voraussichtlich um die aktuellen Werte herum schwanken, wie er am Montag in einem Vortrag auf einer Veranstaltung in Dublin sagte. 2025 werde es dann mit der Teuerung weiter nach unten gehen. "Die Diskussion über eine Zinssenkung nächste Woche ist keine Siegeserklärung", sagte er. Es gebe immer noch eine Menge Kostendruck in der europäischen Wirtschaft. Laut Frankreichs Notenbankchef Francois Villeroy de Galhau sollte sich die EZB für die Zeit nach dem Juni nicht festlegen.

In einem am Montag veröffentlichten Interview hatte Lane zuvor der "Financial Times" gesagt, die EZB könne auf ihrer Sitzung am 6. Juni voraussichtlich das oberste Niveau der Restriktion wegnehmen. Unter einem restriktiven Zins verstehen Währungshüter eine Zinshöhe, bei der eine Volkswirtschaft gebremst wird. Aus Lanes Sicht muss die EZB darauf achten, dass die Schlüsselsätze in diesem Jahr in der restriktiven Zone bleiben. "Aber innerhalb dieser restriktiven Zone können wir uns etwas nach unten bewegen", sagte er der Zeitung.

Die EZB hält den Einlagensatz, den Geldhäuser erhalten, wenn sie bei der Notenbank überschüssige Gelder parken, seit September 2023 auf dem Rekordniveau von 4,0 Prozent. Das Inflationsziel der Eurowächter, eine Teuerung von 2,0 Prozent, ist mit einer Inflation von 2,4 Prozent im April inzwischen in greifbare Nähe gerückt.

VILLEROY: EZB HAT VIEL HANDLUNGSSPIELRAUM

An der Börse haben Anleger ihre Zinssenkungserwartungen für dieses Jahr inzwischen abgeschwächt, nachdem neue Daten eine Zunahme des Lohnwachstums im Euroraum zu Jahresbeginn gezeigt hatten. Aktuell wird nur noch mit einer weiteren Zinssenkung nach dem Juni bis zum Jahresende fest gerechnet. Die Tariflöhne waren im ersten Quartal um 4,7 Prozent gestiegen, nach 4,5 Prozent im Schlussquartal 2023. Lane zufolge stimmt die Richtung jedoch weiter. "Die allgemeine Richtung der Löhne zeigt immer noch auf Abschwächung hin, was wesentlich ist," sagte er der Zeitung. Das Lohnwachstum gilt als einer der Haupttreiber der Inflation in der 20-Länder-Gemeinschaft.

Der Chefökonom warnte vor den Gefahren einer zu späten Lockerung der Geldpolitik. "Wenn wir die Zinssätze zu lange zu restriktiv halten, könnte das die Inflation mittelfristig unter das Zielniveau drücken", sagte er in Dublin. Dann müsse die EZB womöglich mit beschleunigten Lockerungsschritten reagieren und die Zinsen auf ein Niveau unterhalb des neutralen Zinses senken. Als neutraler Zins wird ein Zins bezeichnet, der eine Volkswirtschaft weder anheizt noch bremst.

Aus Sicht von Frankreichs Notenbankchef Villeroy gibt es für die EZB einen erheblichen Zinssenkungsspielraum, wie er in einem am Montag veröffentlichten Interview der "Börsen-Zeitung" sagte. Er verwies auf Marktschätzungen, denen zufolge der neutrale Zins bei zwei bis 2,5 Prozent liege. Nach dem Juni habe die EZB mehrere Freiheitsgrade, sagte er. "Ich plädiere für ein Höchstmaß an Optionalität und einen 'agilen Gradualismus' nach unserer ersten Senkung im Juni." Anders als EZB-Direktorin Isabel Schnabel oder Österreichs Notenbankchef Robert Holzmann argumentierte Villeroy nicht gegen einen raschen zweiten Schritt auf der Juli-Sitzung. "Ich sage nicht, dass wir uns schon für den Juli festlegen sollten, aber wir sollten uns unsere Freiheit bewahren hinsichtlich des Zeitpunkts und des Tempos."

(Bericht von Frank Siebelt und Conor Humphries; Redigiert von Scot W. Stevenson; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)