Von Carol Ryan

LONDON (Dow Jones)--Europas unter Druck stehende Ölkonzern-Chefs haben eine neue Strategie. Sie werden die Förderung fossiler Brennstoffe erst dann kürzen, wenn die weltweite Nachfrage sinkt. Für Investoren verspricht die Strategie viel Geld, aber sie wirft auch Fragen auf. Gerade gab Shell auf seinem Investorentag in New York neue Ziele bekannt, wobei CEO Wael Sawan die detaillierten Planungen für das Unternehmen umriss, das er Anfang des Jahres übernahm.

Zu den neuen Plänen gehören zusätzliche Barmittel für die Aktionäre, eine konstante Produktion von fossilen Brennstoffen und eine höhere Gewinnschwelle für die Freigabe von Investitionen in saubere Energien. Shell will künftig bis zu 40 statt bislang 30 Prozent seines Cashflows an die Investoren verteilen. Dies wird "im Laufe des Zyklus" geschehen, betont das Unternehmen.

Das dürfte wohl eine Art Zusicherung sein, dass sich die Dividendenkürzung von Shell aus dem Jahr 2020 nicht wiederholt. Kosteneffizienz und geringere Investitionsausgaben sollten dazu beitragen, die höheren Rückführungen an die Aktionäre zu finanzieren. Trotzdem legten die Shell-Aktien nur leicht zu.


Verringerung der Ölproduktion durch Verkäufe bereits erreicht 

Solange die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen weiter steigt, wird Shell sie sättigen. Das Unternehmen will sein Erdgasgeschäft ausbauen und den Ölfluss für den Rest des Jahrzehnts konstant halten. Zuvor hatte das Unternehmen geplant, die Ölproduktion um 1 bis 2 Prozent pro Jahr zu verringern, obwohl Shell nach eigenen Angaben dieses Ziel durch den Verkauf von Anlagen bereits erreicht hat.

Der Konkurrent BP hatte im Februar eine ähnliche Entscheidung getroffen. Shell wird auch selektiver in alternative Energiequellen wie Wind- und Solarenergie investieren, wo die Renditen enttäuschend waren.

Europas führende Ölkonzerne wollen bei der Umstellung auf saubere Energie nicht voreilig handeln. Sawan hält es für "ungesund", die Öl- und Gasproduktion zu drosseln, während die weltweite Nachfrage nach fossilen Brennstoffen weiterwächst.

In ähnlicher Weise positionierte sich jüngst Totalenergies-Chef Patrick Pouyanné. Er will mit der Ölproduktion des Konzerns erst zurückgehen, wenn er einen Rückgang der Nachfrage konstatiert.


Kein kalter Entzug 

Es spricht einiges dafür, die Welt nicht in einer Art kaltem Entzug von Öl und Gas auszuhungern, bevor ein alternatives Energiesystem vorhanden ist. Verbraucher und Unternehmen brauchen keine Wiederholung der Energieknappheit und der rekordhohen Preise des vergangenen Jahres.

Doch der Löwenanteil der Investitionsbudgets der Ölgesellschaften fließt immer noch in fossile Brennstoffe und nicht in Alternativen. Ein Risiko für die Anleger besteht darin, dass die Ölkonzerne, wenn der Wendepunkt erreicht ist, nicht so gut auf die Energiewende - oder strengere Vorschriften - vorbereitet sind, wie sie es sein sollten.

Die Internationale Energieagentur (IEA) geht davon aus, dass die Spitze der Ölproduktion noch in diesem Jahrzehnt erreicht wird. Im Moment gibt es keinen offensichtlichen Kandidaten, der Öl und Gas ersetzen könnte, oder zumindest keinen, der so profitabel ist.


Rendite bei Erneuerbaren Energien niedriger 

BP beispielsweise strebt eine Investitionsrendite von bis zu 8 Prozent für erneuerbare Energien wie Wind- und Solarenergie an, was weniger als die Hälfte dessen ist, was Projekte für fossile Brennstoffe normalerweise einbringen. Biokraftstoffe sind vielversprechender, ebenso wie grüner Wasserstoff und Kohlenstoffabscheidung sowie -speicherung, aber diese Märkte sind noch klein.

Die europäischen Energieunternehmen versuchen, konkurrierende Kräfte auszutarieren. Ihre Bewertungen werden mit einem großen Abschlag gegenüber den US-Ölgiganten Exxon Mobil und Chevron gehandelt, da die Anleger derzeit Unternehmen belohnen, die an fossilen Brennstoffen festhalten. Die Aktionäre wollen jedoch nicht zu viel in neue Ölexplorationen investieren und bevorzugen stattdessen die Rückzahlung von Geldern.


ESG-Aspekte im Blick 

Shell, BP und Totalenergies stehen auch unter dem Druck von europäischen Investoren, denen die Themen Umwelt, Sozialaspekte und gute Unternehmensführung (ESG) wichtig sind. Die Ölkonzerne sollen sich mit dem Klimawandel auseinanderzusetzen.

Die Botschaft von Big Oil an die Gesellschaft lautet in vielfacher Hinsicht: "Ihr seid dran" ermöglicht es den Unternehmen, ihre Wetten auf die Energiewende vorerst zurückzustellen. Aber ein überzeugender langfristiger Plan lässt sich daraus nicht ableiten.

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June 15, 2023 05:14 ET (09:14 GMT)