Von Matthias Goldschmidt

FRANKFURT (Dow Jones)--Die Versicherungsbranche muss sich auf ein dauerhaft hohes Schadensniveau aus Naturkatastrophen einstellen. "Man kann einen globalen versicherten Schaden aus Naturkatastrophen von mehr als 100 Milliarden Euro im Jahr als neues Normal bezeichnen", sagte Ernst Rauch, Chefklimatologe der Munich Re, im Gespräch mit Dow Jones Newswires anlässlich der Naturkatastrophenbilanz des Rückversicherers für das Jahr 2022.

Laut Bericht verursachten Hurrikane, Überschwemmungen und weitere Naturkatastrophen im vergangenen Jahr versicherte Schäden von rund 120 Milliarden US-Dollar. Das ist ein ähnlich hohes Niveau wie im Vorjahr und mehr als der Durchschnitt der vorherigen fünf Jahre.

Zwei Faktoren nannte Rauch, die dabei eine Rolle spielen. Zum einen verstärke der Klimawandel Wetterextreme, zum anderen herrschten das dritte Jahr in Folge sogenannte La-Niña-Bedingungen, die etwa die Entstehung von Hurrikanen im Nordatlantik begünstigen. Etwa als die Hälfte des gesamten versicherten Schadens 2022 entfiel auf den Hurrikan "Ian", der im September auf die Küste Floridas traf.

Dieses Jahr könnten sich die Bedingungen ändern. "Stand heute ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich La Niña in den nächsten Monaten zurückentwickelt, und wir im Frühjahr 2023 in eine sogenannte neutrale Phase kommen", sagte Rauch. "Dann wäre es nicht sehr wahrscheinlich, dass direkt danach nochmal ein La-Niña-Effekt auftritt, eher schon mit El Niño das Gegenteil - also eine natürliche Erwärmung des Pazifiks."

In El-Niño-Jahren treten eher Waldbrände und Hitzewellen auf. Allerdings war auch das vergangene Jahr bereits sehr warm. "Wir sahen zum Jahresende 2022, dass wir in Mitteleuropa ein neues Rekordtemperaturjahr hatten bzw. ein gleich heißes Jahr wie 2018", sagte Rauch. "Das ist ungewöhnlich in einer La-Niña-Phase und ein starker Hinweis darauf, dass der Klimawandel fortschreitet."

Die Konsequenz aus der Entwicklung sei, dass die Anpassungsnotwendigkeit zunehme. "Wir stellen fest, dass die Menschheit bei der Emissionsvermeidung viel zu langsam ist", stellte Rauch fest. Was am schnellsten wirke, um die Schäden zu begrenzen, sei Anpassung - etwa durch sturmsicheres und überschwemmungssicheres Bauen. "Sich bewusst zu machen, dass etwas passiert und dann zu handeln, ist sicher auch eine Lehre aus 2022."


   Versicherungsdichte in armen Ländern unverändert niedrig 

Die Gesamtschäden waren 2022 mit 270 Milliarden Dollar erneut deutlich höher als die versicherten. Beispielsweise war bei einem der größten Schadensereignisse des Jahres - Überschwemmungen in Pakistan mit einem Gesamtschaden von mindestens 15 Milliarden Dollar und 1.700 Toten - fast nichts versichert. Laut Rauch ändert sich an der Situation kaum etwas. "In einkommensschwachen Ländern ist die Situation seit Jahrzehnten fast unverändert", sagte der Geowissenschaftler. "Es gibt über einen längeren Zeitraum keine Veränderungen, die auf substanziell mehr Versicherungsschutz hindeuten."

Anders sehe es in den Industrieländern aus. "Man sieht in den Industrieländern bzw. OECD-Ländern, dass diese Versicherungslücke, also das Verhältnis vom Gesamtschaden zum Versicherungsschaden, in der Tendenz kleiner wird, und das über einen langen Zeitraum hinweg", sagte Rauch.

Ebenfalls bemerkenswert an der Schadensbilanz 2022 war, dass einzelne Ereignisse wesentlich verheerender waren als vergleichbare Katastrophen in den Vorjahren. "2022 gab es erneut etwas, das man als sprunghaften Anstieg von Schäden sehen kann - dieses Mal verursacht durch Überschwemmungen in Australien", stellte der Klimatologe fest. "Wir haben Ähnliches in den letzten Jahren auch schon in anderen Regionen gesehen, etwa 2021 im Ahrtal in Deutschland."

So seien die Schäden in Australien im Vergleich zu den zweitgrößten vergleichbaren Schäden in der Vergangenheit nicht nur etwas größer ausgefallen, sondern seien um Faktor zwei oder drei größer gewesen, so Rauch weiter. 2021 sei die Überschwemmung im Ahrtal für die Versicherungswirtschaft vier Mal so teuer gewesen wie die zweitgrößten Überschwemmungsschäden 2013 und 2002.

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January 10, 2023 04:07 ET (09:07 GMT)