Von Hans Bentzien

FRANKFURT (Dow Jones)--Die Europäische Zentralbank (EZB) steht vor der ersten Zinssenkung seit fünf Jahren. Als sie ihre Zinsen zuletzt - im Mai 2019 - zurücknahm, kam das einem Akt der Verzweiflung gleich. Der Einlagensatz wurde auf minus 0,50 Prozent reduziert, weil Inflation und erwartete Inflation unter 1 Prozent lagen. Seither ist einiges passiert: Eine Pandemie hat die Welt durchgeschüttelt, ihre wirtschaftlichen Folgen wurden erst mit milliardenschweren Anleihekäufen und dann mit Zinserhöhungen bekämpft, Russland griff die Ukraine an und löste damit eine Rekordinflation aus. Inzwischen hat sich die Lage, abgesehen vom Krieg in der Ukraine, beruhigt: Bei der Inflation steht eine 2 vor dem Komma, während der Leitzins bei 4,00 Prozent liegt. Zeit für eine Zinssenkung.

Analysten rechnen damit, dass der EZB-Rat am Donnerstag (14.15 Uhr) eine Senkung der Leitzinsen um 25 Basispunkte bekannt geben wird. Die große Frage ist, wie es anschließend weitergeht, denn: So einig sich die Ratsmitglieder aller Coleur hinsichtlich des Juni-Zinsschritts waren, so uneinig sind sie in der Frage, wie rasch und wie stark insgesamt die Zinsen gesenkt werden sollen.

Eine wichtige Rolle werden dabei die aktuellen Inflationsprognosen der EZB spielen. Entscheidend bleiben aber wohl weiterhin die aktuellen Inflationsdaten, auf die der Rat weiterhin "von Sitzung zu Sitzung" reagieren dürfte. Es spricht einiges dafür, dass sich der Rat mit der Möglichkeit weiterer Zinssenkungen im September und Dezember auseinandersetzen wird, wenn neue Stabsprojektionen vorliegen.

Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass der zuletzt bekannt gewordene beschleunigte Anstieg der Tariflöhne im ersten Quartal eher Wasser auf die Mühlen jener Ratsmitglieder ist, die ein vorsichtiges Vorgehen befürworten. Die Inflation im Euroraum ist im Mai auf 2,6 (April: 2,4) Prozent gestiegen, was für Zurückhaltung bei Zinssenkungen spricht. Ferner wird erwartet, dass die EZB an ihrem Beschluss festhalten wird, die unter dem PEPP-Programm erworbenen Anleihebestände ab Juli um monatlich 7,5 Milliarden Euro zu verringern.

Neben einem weiteren geldpolitischen Termin, der Zinsentscheidung der Bank of Canada (Mittwoch, 16 Uhr), stehen in der Woche einige wichtige Konjunkturdaten an:


Deutscher Auftragseingang startet moderat ins zweite Quartal 

Der Auftragseingang ist im ersten Quartal gegenüber dem Vorquartal um 4,3 Prozent gesunken und war damit schwächer als in den Zeiten der Corona-Pandemie. Offenbar haben vor allem inländische Kunden nicht genug Zuversicht bezüglich der Geschäftsaussichten, auch wenn die in den Unternehmen erhobenen Stimmungsindikatoren seit einiger Zeit steigen. Für April erwarten von Dow Jones Newswires befragte Volkswirte einen Anstieg von 0,6 Prozent. Die Daten werden am Donnerstag (8.00 Uhr), zeitgleich mit denen zum Umsatz im verarbeitenden Gewerbe veröffentlicht.


Deutsche Produktion legt im April leicht zu 

Die Produktion im produzierenden Sektor Deutschlands dürfte im April leicht gestiegen sein. Volkswirte erwarten, dass der Ausstoß von verarbeitendem Gewerbe, Bau- und Energiewirtschaft gegenüber dem Vormonat um 0,2 Prozent gestiegen ist. In den drei Monaten hatte die Produktion in der Industrie im engeren Sinne um 0,2 Prozent zugelegt und die Bauproduktion um 2,5 Prozent. Viele Analysten setzen darauf, dass die deutsche Wirtschaft auch im zweiten Quartal etwas wachsen wird. Ob sie dabei Unterstützung von der Industrie erhält, könnte sich schon jetzt zeigen.


Kräftiger Stellenzuwachs in den USA hält an 

Der US-Arbeitsmarkt dürfte im Mai trotz der straffen Zinspolitik der Federal Reserve robust geblieben sein. Ökonomen erwarten nach dem Factset-Konsens ein Stellenwachstum von 208.000 (Vormonat: 175.000) und eine stabile Arbeitslosenquote von 3,9 Prozent. Für die Stundenlöhne wird ein Zuwachs um 0,3 (0,2) Prozent im Monats- und ein Plus von 4,0 (3,9) im Jahresvergleich vorhergesagt. Trotz höherer Inflation und höherer Zinsen haben sich die Konsumausgaben in den USA dank des robusten Arbeitsmarktes bisher gut gehalten.

Je stärker der Arbeitsmarkt bleibt, desto langsamer sinkt die Inflation und desto später wird die Fed mit Zinssenkungen reagieren. Inzwischen wachsen die Zweifel immer mehr, ob die US-Notenbank in diesem Jahr überhaupt noch die Zinsen senken wird. Zu Beginn des Jahres hatten die Märkte noch sechs Zinssenkungen für möglich gehalten, inzwischen sind die Erwartungen wegen der nur langsam zurückweichenden Inflation auf eine oder zwei Senkungen zusammengeschmolzen.

Mitarbeit: Andreas Plecko

Kontakt zum Autor: hans.bentzien@dowjones.com

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May 31, 2024 09:42 ET (13:42 GMT)