Von Andreas Kißler

DÜSSELDORF/BERLIN (Dow Jones)--Deutschland ist nach der Analyse des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) "mit deutlich verbesserten Aussichten auf eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik" ins Jahr 2022 gestartet. Grund dafür seien wichtige Vorhaben der Ampel-Koalition wie eine Ausweitung der öffentlichen Investitionen, die deutliche Erhöhung des Mindestlohns oder eine bessere Förderung von Qualifizierung in der wirtschaftlichen Transformation. Hinzu kämen wirtschaftspolitische Reformoptionen auf EU-Ebene.

In ihrem wirtschaftspolitischen Jahresausblick konstatierten die Expertinnen und Experten des zur Hans-Böckler-Stiftung gehörenden Instituts allerdings trotz eines positiven Grundtenors nach eigenen Angaben auch Defizite, die möglichst rasch korrigiert werden sollten. Dazu zählte das IMK etwa angesichts eines zusätzlichen öffentlichen Investitionsbedarfs von 60 bis 80 Milliarden Euro im Jahr zu kleinteilige und teilweise rechtlich umstrittene Maßnahmen, mit denen die Bundesregierung fiskalische Spielräume eröffnen wolle, und die Ausweitung von Minijobs.

Das IMK betonte, ein für 2022 prognostiziertes Wirtschaftswachstum von 4,5 Prozent beruhe zum einen auf Aufholeffekten, weil nach einem schwierigen Winter durch eine erwartete schrittweise Überwindung der Pandemie ab dem Frühjahr der private Konsum wieder stärker in Schwung komme, während sich Lieferengpässe langsam entspannten. Positiv dürften nach der IMK-Analyse aber auch wesentliche Projekte der neuen Regierung wirken - auch in den kommenden Jahren, wenn nach den Auswirkungen der Pandemie die Herausforderungen einer sozial-ökologischen Umgestaltung der Wirtschaft wieder in den Vordergrund träten.

"Tatsächlich sind mit dem Koalitionsvertrag der neuen Ampel-Koalition für viele makroökonomisch relevante Bereiche wichtige Weichenstellungen angelegt", schrieben die Wirtschaftsfachleute in ihrem Jahresausblick. Wesentliche Schwerpunkte seien richtig gesetzt, allerdings seien bei vielen wichtigen Fragen die Details "noch nicht ausreichend ausbuchstabiert", und stellenweise seien Verbesserungen nötig.


   Investitionsbedarf bis zu 800 Milliarden Euro 

So veranschlage das IMK den zusätzlichen öffentlichen Investitionsbedarf für digitale und bauliche Infrastruktur, Dekarbonisierung und Bildung über zehn Jahre angesichts der verschärften Klimaziele inzwischen auf 600 bis 800 Milliarden Euro. Das entspräche 240 bis 320 Milliarden Euro in der laufenden Legislaturperiode. Angesichts von durch die Corona-Krise strapazierten, aber insgesamt soliden Staatsfinanzen und Niedrig- oder sogar Negativzinsen für Staatsanleihen sei es grundsätzlich kein Problem, diesen Bedarf über Kredite zu finanzieren.

Allerdings wirkten die Schuldengrenzen im Grundgesetz nach wie vor als "enges Korsett für öffentliche Investitionen". Die Entscheidung, weder die Schuldenbremse zu reformieren noch Steuern zu erhöhen, zwinge die Koalitionäre somit "zur kreativen Suche nach einer Vielzahl kleinteiliger Lösungen zur Finanzierung von Zukunftsinvestitionen". Dazu zählten neben der Nutzung von 60 Milliarden Euro aus nicht wahrgenommenen Kreditermächtigungen von 2021 für den Energie- und Klimafonds unter anderem die angekündigte Anpassung des Konjunkturbereinigungsverfahrens der Schuldenbremse oder die verstärkte Finanzierung über Bundesgesellschaften.

Allerdings kämen durch die von der Regierung angekündigten Maßnahmen bestenfalls Spielräume in der Größenordnung eines "niedrigen dreistelligen Milliardenbetrags" in dieser Legislaturperiode zusammen. Das IMK forderte "eine umfassende Reform der Schuldenbremse" anstelle der kleinteiligen Suche nach zusätzlichen Spielräumen und regte eine "goldene Regel" in den Verschuldungsvorschriften an, um Nettoinvestitionen über Kredite zu finanzieren. Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik kritisierte das IMK es als "schwerwiegenden arbeitsmarktpolitischen Fehler", die Verdienstgrenze für Minijobs auf 520 Euro anheben und künftig weiter dynamisieren zu wollen.

Auf europäischer Ebene schlugen die Düsseldorfer Fachleute für die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts eine deutliche Erhöhung des Referenzwerts für den Schuldenstand von 60 auf zum Beispiel 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vor. So ließe sich der Druck mindern, dass etliche Euro-Länder nach Abklingen der akuten Corona-Krise einen wachstums- und investitionsschädlichen Sparkurs einlegen müssten. Zudem regten sie an, dem Deutschen Aufbau- und Resilienzplan, in den die von der EU aus Krediten bereitgestellten Mittel zur Überwindung der Corona-Krise fließen, über die Pandemie hinaus eine dauerhafte Perspektive zu geben.


   IMK hält EZB-Politik für angemessen 

Die 2021 deutlich angestiegene Inflation sah das IMK als Belastung für viele Verbraucherinnen und Verbraucher. Die Strategie der Europäischen Zentralbank (EZB), ihre expansive Geldpolitik nur langsam zurückzufahren, hielt das Institut trotzdem für absolut angemessen. "Die EZB lässt sich zu Recht nicht durch die zahlreichen Preisschocks beirren, ist aber auch kurzfristig in der Lage zu handeln, sollte sich doch eine Preis-Lohn-Spirale andeuten", erklärte das IMK. Die Belastungen von Preisschocks ließen sich nicht durch geringeres Wachstum und höhere Arbeitslosigkeit mindern.

Dahinter stehe die Analyse, dass die nach geringen Preissteigerungen in den sechs Vorjahren im Jahr 2021 erstmals über das EZB-Inflationsziel hinaus gestiegene Inflationsrate vor allem aus einer Kombination verschiedener Sonderfaktoren resultiere. Dazu zählten der statistische Basiseffekt durch die extrem schwache Preisentwicklung im ersten Corona-Jahr 2020, der massive Anstieg der Nahrungsmittelpreise sowie globale Transport- und Lieferengpässe nach Abklingen der akuten ersten Krisenphase. Hinzu komme die Auswirkung der zeitweilig abgesenkten Mehrwertsteuer.

Solche "Preisschocks" könne die EZB durch eine straffere Geldpolitik nicht abfangen. Die stärkere Preissteigerung sei für viele Haushalte schmerzhaft, aber nicht dauerhaft, erwartete das IMK. Die Inflation dürfte "bereits in der ersten Jahreshälfte niedriger ausfallen als Ende 2021 und in der zweiten Jahreshälfte weiter sinken". Für eine Preis-Lohn-Spirale gebe es aktuell keine Anzeichen. Ein kurzfristiger weiterer Anstieg der Energiepreise sei eher unwahrscheinlich, zumal die Senkung der EEG-Umlage dämpfend wirke.

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January 13, 2022 03:45 ET (08:45 GMT)