Der US-Markt gilt als tiefer, liquider und in der Lage, höhere Bewertungen zu ermöglichen – Gründe, die zahlreiche europäische Unternehmen dazu bewegen, entweder direkt an der New Yorker Börse zu debütieren oder ihre Hauptnotierung dorthin zu verlegen. Um diesen Trend zu stoppen, haben Deutsche Börse und Euronext eine koordinierte Kommunikationskampagne gestartet, die von Datenanalysen begleitet wird – mit dem Ziel, gängige Vorurteile zu entkräften.

Ein gesamteuropäisches Phänomen

In einem internen Papier, das kürzlich an deutsche Unternehmen und IPO-Berater verteilt wurde, warnt die Deutsche Börse – Betreiberin der Frankfurter Wertpapierbörse – vor enttäuschenden Post-IPO-Entwicklungen in den USA, höheren Kosten und einem gesteigerten Risiko rechtlicher Auseinandersetzungen. Laut den vorgelegten Zahlen verzeichneten rund zwei Drittel der in Europa, darunter auch in Deutschland, gelisteten Unternehmen Kursgewinne am ersten Handelstag – gegenüber nur etwa der Hälfte jener europäischen Firmen, die sich in den USA listen ließen. Auch langfristig sollen europäische Börsengänge besser abgeschnitten haben.

Ohne sich zur Bewertung zum Zeitpunkt der Emission zu äußern, verweist die Deutsche Börse auf mehrere europäische Unternehmen, deren aktuelle Bewertungsmultiplikatoren über denen vergleichbarer, in New York notierter Konkurrenten liegen.

Euronext – der Verbund aus sieben europäischen Börsen, darunter Paris und Amsterdam – plant ein ähnliches Positionspapier, um die weitverbreitete Annahme zu widerlegen, dass eine Notierung in New York automatisch zu besseren Bewertungen führe. „Wir sehen einen echten Wettbewerb zwischen europäischen und US-Märkten um Börsengänge – mehr als eine inner-europäische Rivalität“, erklärte Stefan Maassen, Leiter des Bereichs Kapitalmärkte bei der Deutschen Börse.

Börsenbetreiber erzielen ihre Einnahmen über Listing-Gebühren und Handelskommissionen. Ihre Rolle ist daher entscheidend bei der Kapitalmobilisierung – ein vorrangiges Ziel europäischer Entscheidungsträger, die die Kapitalmärkte des Kontinents stärken wollen.

Der Größenunterschied bleibt gewaltig

Die Tiefe des US-Markts bleibt ein entscheidender Vorteil: Laut LSEG beläuft sich die Marktkapitalisierung des S&P 500 auf 49,5 Billionen US-Dollar – fast das Vierfache des europäischen Stoxx 600. Um diesen Rückstand aufzuholen, prüfen europäische Regulierungsbehörden derzeit Maßnahmen zur Lockerung der Zulassungsanforderungen und zur Erleichterung des Kapitalzugangs.

Argumente gegen das New Yorker Dogma

Die Initiative von Deutsche Börse und Euronext steht im Einklang mit dem Vorstoß der Londoner Börse, die kürzlich ein „Faktenpapier“ veröffentlichte, das vermeintliche Vorteile amerikanischer Bewertungen in Frage stellt.

In ihrem Bericht weist die Deutsche Börse darauf hin, dass die Aktien deutscher Unternehmen, die in den USA notiert sind, seit 2004 im Schnitt um 13 % gefallen sind – genannt werden etwa Trivago und Mytheresa (mittlerweile umfirmiert in LuxExperience). Im Gegensatz dazu hätten Unternehmen mit Börsengang in Frankfurt im Mittel einen Kursanstieg von 24 % verzeichnet.

Nach Angaben des Thinktanks New Financial haben in den vergangenen zehn Jahren rund 130 europäische Unternehmen – mit einer kombinierten Marktkapitalisierung von 667 Milliarden US-Dollar – den Schritt an die US-Börsen gewagt oder ihre Hauptnotierung dorthin verlegt. Allerdings notieren heute 70 % dieser Firmen unter ihrem Ausgabepreis – im Schnitt liegt der Rückgang bei 9 %.

„Wir müssen unsere Wettbewerbsvorteile viel stärker sichtbar machen – nicht nur global, sondern auch auf unserem eigenen Kontinent“, forderte Christian Sewing, Vorstandschef der Deutschen Bank, am Dienstag in einer Rede in Berlin.

Die Deutsche Börse verweist zudem auf ein erhöhtes rechtliches Risiko für im Ausland notierte Unternehmen – auch wenn manche Beobachter diese Klageanfälligkeit als stärkeren Anlegerschutz interpretieren.

Rückenwind durch US-Volatilität?

Die jüngste Volatilität der US-Märkte, verschärft durch die unvorhersehbare Zollpolitik der US-Regierung, könnte den europäischen Börsen neuen Auftrieb verleihen, glauben führende Marktakteure.

Andere Marktbeobachter geben sich indes zurückhaltend. Eva-Maria Wiecko, Leiterin für Aktienmarkt-Lösungen bei Rothschild & Co für Deutschland und Österreich, merkt an, dass trotz einzelner Rückverlagerungen der Kapitalfluss nach wie vor klar in Richtung USA gehe: „Die Rückwärtsbewegung bleibt marginal – ein klares Indiz für die anhaltende Stärke der Wall Street.“