Vance Boelters Verkleidung war nicht perfekt. Die Silikonmaske saß etwas locker, und das Nummernschild seines SUVs trug schlicht die Aufschrift ,,POLICE" in schwarzen Buchstaben. Doch das reichte aus - auf einer schlecht beleuchteten Vorstadtstraße mitten in der Nacht.
Um 2:36 Uhr am Samstagmorgen, etwa 30 Minuten nachdem Boelter laut Behörden den Senator des US-Bundesstaates Minnesota, John Hoffman, und dessen Ehefrau schwer verletzt hatte, hielt er mit seinem SUV nahe dem Haus einer weiteren Senatorin, Ann Rest, in der Stadt New Hope an.
Der SUV war mit Waffen bestückt, darunter AK-47-Sturmgewehre, sowie mit Flugblättern, die für eine lokale Anti-Trump-Kundgebung am späteren Samstag warben, und einer handschriftlichen Namensliste von Personen, die offenbar zu seinen Zielen gehörten. Laut Staatsanwaltschaft stand Senatorin Rest am 14. Juni ebenfalls auf Boelters Todesliste.
Während Boelter im SUV in der Nähe von Rests Haus wartete, näherte sich ein weiteres Polizeifahrzeug - diesmal ein echtes.
Eine Polizistin aus New Hope, die von der Schießerei bei den Hoffmans erfahren hatte, wollte nach dem Rechten sehen. Als sie den SUV mit eingeschaltetem Blaulicht und Polizeiaufklebern sah, hielt sie den Mann darin für einen Kollegen.
Doch als sie versuchte, mit ihm zu sprechen - ein Kollege grüßt den anderen -, reagierte der Mann im SUV nicht. Stattdessen starrte er einfach geradeaus. Die Polizistin fuhr weiter, um bei Senatorin Rest nachzusehen.
Rest erklärte später, das beherzte Handeln der New Hope-Polizistin habe ihr vermutlich das Leben gerettet - eine Einschätzung, die auch Polizeichef Timothy Hoyt teilt.
,,Mit nur wenigen Informationen ist sie alleine dorthin gegangen, um nach dem Wohl unserer Senatorin zu sehen", sagte Hoyt gegenüber Reuters. ,,Sie hat das Richtige getan."
Die kurze Begegnung in New Hope unterstrich die sorgfältige Planung von Boelters nächtlichem Amoklauf und wie seine Polizeiuniform - inklusive Schutzweste, Abzeichen und taktischer Ausrüstung - die ersten Versuche, ihn zu stoppen, erschwerte.
Nach dem Zusammentreffen mit der New Hope-Polizistin fuhr der 57-jährige Boelter vom Tatort davon und steuerte sein nächstes Ziel an. Die Polizei jagte ihn weitere 43 Stunden. Dabei wurden zahlreiche staatliche und bundesstaatliche Behörden eingeschaltet - es war die größte Fahndung in der Geschichte Minnesotas und verstärkte das Gefühl der Desorientierung in einem Land, das bereits mit Protesten gegen Einwanderung, der gewaltsamen Entfernung eines US-Senators von einer Pressekonferenz und einer seltenen Militärparade in Washington kämpfte.
Bundesanwälte erklärten, sie könnten die Todesstrafe für Boelter fordern, der wegen zweifachen Mordes und versuchten Mordes an zwei weiteren Personen angeklagt ist - ein Angriff, den Gouverneur Tim Walz als ,,politisch motiviert" bezeichnete.
Die Ermittler prüfen weiterhin das Motiv und ob es Mittäter gab. Boelter hat bislang kein Geständnis abgelegt. Manny Atwal, sein Pflichtverteidiger, erklärte, er prüfe den Fall und wolle sich nicht äußern.
Diese Rekonstruktion der Fahndung basiert auf Gerichtsakten, Aussagen von Strafverfolgungsbehörden sowie Interviews mit einem Freund Boelters, lokalen Polizisten, Abgeordneten und Anwohnern der betroffenen Gebiete.
Obwohl sich die Ereignisse wie ein Fernsehkrimi abspielten, gebe es Parallelen zu früheren Amokläufen, sagen Experten des Strafrechts. James Fitzgerald, ehemaliger FBI-Profiler, vermutet, Boelter habe möglicherweise den Amoklauf in Kanada 2020 studiert, bei dem ein als Polizist verkleideter Täter in Nova Scotia 22 Menschen tötete.
,,Solche Täter recherchieren immer im Vorfeld. Sie wollen wissen, wie andere Mörder erfolgreich waren und wie sie gefasst wurden", so Fitzgerald, der 1996 zur Festnahme des ,,Unabombers" Ted Kaczynski beitrug. ,,Und natürlich verschafft man sich Zeit, wenn man sich als Polizist ausgibt."
SCHÜSSE AUF HOFFMAN
Die Gewalt begann im Backsteinhaus der Hoffmans in Champlin, einem grünen, bürgerlichen Vorort von Minneapolis. Mit eingeschaltetem Blaulicht fuhr Boelter kurz nach 2 Uhr morgens in die Einfahrt und klopfte an die Tür.
,,Hier ist die Polizei. Öffnen Sie die Tür!", rief Boelter laut FBI-Akten wiederholt.
Senator Hoffman und seine Frau Yvette erkannten schnell, dass Boelter kein echter Polizist war. Boelter schoss neunmal auf Senator Hoffman und feuerte dann auf Yvette, die ihre Tochter schützend abschirmte.
Während Boelter floh, wählte die Tochter den Notruf.
Die Hoffmans standen auf einer Liste mit über 45 Bundes- und Landespolitikern aus Minnesota - allesamt Demokraten -, wie der amtierende US-Staatsanwalt Joseph H. Thompson am Montag mitteilte.
Boelter habe laut seinem Mitbewohner David Carlson für Donald Trump gestimmt, sei Christ und gegen Abtreibung gewesen. Carlson betonte, Boelter sei nicht wütend wegen Politik gewesen.
Thompson sagte, Boelter habe ,,seine Opfer wie Beute gestalkt", doch aus seinen Schriften gehe kein klares Motiv hervor. ,,Seine Taten sind der Stoff aus Albträumen."
Nach dem Anschlag auf die Hoffmans war die nächste Adresse im GPS eine Abgeordnete etwa 15 Kilometer entfernt im Vorort Maple Grove.
Überwachungskameras am Haus der Abgeordneten Kristin Bahner zeigen, wie ein maskierter Boelter um 2:24 Uhr klingelt und ruft: ,,Machen Sie auf, hier ist die Polizei, wir haben einen Durchsuchungsbefehl", so das FBI.
Bahner und ihre Familie waren nicht zuhause.
Von dort fuhr Boelter weiter nach New Hope, wo es zur Begegnung mit der Polizistin kam. Danach wurde er erst wieder gesichtet, als er am Haus von Melissa Hortman, der demokratischen Mehrheitsführerin im Repräsentantenhaus von Minnesota, in Brooklyn Park auftauchte.
Da die Polizei vermutete, Hortman könnte ein Ziel sein, überprüften Polizisten ihr Haus. Als sie um 3:30 Uhr eintrafen, stand ein schwarzer Ford Explorer mit Polizeilichtern davor. Boelter befand sich an der Haustür.
Als Boelter die Beamten aussteigen sah, eröffnete er das Feuer. Anschließend rannte er ins Haus, wo er Melissa und Mark Hortman, ihren Ehemann, tötete.
'PAPA IST IN DEN KRIEG GEZOGEN'
Nach der Tat bei den Hortmans ließ Boelter seinen falschen Polizei-SUV zurück. Im Fahrzeug fanden die Ermittler eine 9mm-Pistole, drei AK-47-Sturmgewehre, Flugblätter für eine Anti-Trump-Kundgebung und ein Notizbuch mit weiteren Namen potenzieller Ziele.
Von da an war Boelter auf der Flucht. Über seine Bewegungen ist wenig bekannt, doch die Polizei weiß, dass er seine Wohnung in Nord-Minneapolis aufsuchte. Er verschickte zudem Nachrichten: In einem Familien-Chat schrieb er ,,Papa ist letzte Nacht in den Krieg gezogen". Einer engen Freundin schrieb er, er könne bald tot sein.
Die Ermittler wissen auch, dass Boelter am frühen Samstagmorgen an einer Bushaltestelle in Minneapolis einen Mann traf, der ihm für 900 Dollar ein E-Bike und einen Buick verkaufte. Gemeinsam fuhren sie zu einer Bank, wo Boelter 2.200 Dollar abhob. Eine Überwachungskamera zeigt ihn mit Cowboyhut.
Doch erst am Sonntag um 10 Uhr konnten die Behörden den Kreis schließen. In der Nähe von Boelters Elternhaus in Green Isle, einer ländlichen Gemeinde, fanden sie den verlassenen Buick, einen Cowboyhut und einen handgeschriebenen Brief an das FBI, in dem Boelter die Schüsse gestand.
Sofort richteten die Einsatzkräfte einen Sperrkreis ein, SWAT-Teams und Spürhunde wurden eingesetzt, Drohnen stiegen auf.
Den entscheidenden Hinweis lieferte jedoch eine Wildkamera eines Anwohners, die Boelter gegen 19 Uhr aufzeichnete und das Suchgebiet eingrenzte.
Zwei Stunden später endete die Verfolgung: Boelter kroch bewaffnet, aber kampflos auf die Polizei zu und ergab sich.